13
Die beiden Pietr
Nie hatte Maigret eine so schlagartige Trunkenheit erlebt. Niemals hatte er gesehen, wie ein Mann ein großes Wasserglas voll Whisky in einem Zug herunterstürzte, es wieder füllte und noch einmal leerte, es ein drittes Mal füllte, die Flasche schüttelte und den zweiundvierzigprozentigen Schnaps bis zum letzten Tropfen in sich hineinschüttete.
Die Wirkung war eindrucksvoll. Pietr, der Lette, wurde purpurrot und Sekunden später leichenblaß. Nur ein paar unregelmäßige rote Flecken blieben auf seinen Wangen. Aus seinen Lippen wich das Blut. Er hielt sich an dem Tischchen fest, machte zwei, drei schwankende Schritte und stieß mit der Teilnahmslosigkeit eines Betrunkenen hervor:
»Das haben Sie doch gewollt, hm? …«
Und er verfiel in ein wirres Lachen, in dem alles enthalten war: Angst, Ironie, Bitterkeit und vielleicht Verzweiflung. Er warf einen Stuhl um, als er sich darauf stützen wollte, und wischte sich die feuchte Stirn ab.
»Geben Sie doch zu, daß Sie es ganz allein nicht geschafft hätten … Es ist der reine Zufall …«
Maigret rührte sich nicht. Er fühlte sich so unbehaglich, daß er am liebsten seinem Gegenüber ein Medikament gegeben hätte, um dieser Szene ein Ende zu setzen.
Vor seinen Augen spielte sich die gleiche Verwandlung wie am Morgen ab, nur zehnmal, hundertmal stärker.
Eben hatte er es noch mit einem Menschen zu tun, der Herr seiner selbst war und über einen scharfen Verstand und einen außergewöhnlichen Willen verfügte …
Ein Mann von Welt und ein Gelehrter, mit äußerst korrektem Benehmen.
Und plötzlich hatte er nur noch ein Nervenbündel vor sich, eine Marionette an verhedderten Fäden, ein bleiernes, verzerrtes Gesicht, mit Augen, deren Farbe an aufgewühltes Meer denken ließ.
Er lachte! Aber während des Lachens und seiner ziellosen Bewegungen lauschte er, neigte sich vor, als hätte er unter seinen Füßen ein Geräusch vernommen.
Nun, unter ihnen lag das Appartement der Mortimers.
»Das war gut abgekartet!« brachte er mit heiserer Stimme hervor. »Und Sie waren nicht in der Lage, das zunichte zu machen! Nur der Zufall, sage ich Ihnen, oder eine Reihe von Zufällen!«
Er taumelte an die Wand, lehnte sich schräg dagegen und verzog das Gesicht, weil ihm diese künstliche Trunkenheit, die an eine Vergiftung grenzte, heftige Kopfschmerzen bereiten mußte.
»Also … Sagen Sie mir doch, solange noch Zeit ist, welcher Pietr ich bin! In Ihrer Sprache ähnelt Pietr dem ›pitr‹, dem Hanswurst, nicht wahr? …«
Es war zugleich abstoßend und traurig, lächerlich und widerwärtig. Und mit jeder Sekunde nahm diese galoppierende Trunkenheit zu.
»Komisch, daß sie nicht kommen! … Aber sie werden kommen! … Und dann … Na, raten Sie! … Welcher Pietr? …«
Plötzlich veränderte er seine Haltung, nahm den Kopf in beide Hände, und sein Gesicht verriet, daß er körperlich litt.
»Sie werden es nie begreifen … Die Geschichte mit den zwei Pietr … Es ist ungefähr so wie die Geschichte von Kain und Abel … Sie müssen doch katholisch sein … Bei uns ist man Protestant und lebt mit der Bibel … Aber was soll’s! … Ich, ich bin sicher, daß Kain ein zu gutmütiger, vertrauensseliger Junge war … Dieser Abel dagegen …«
Auf dem Gang hallten Schritte. Die Tür ging auf.
Maigret war selbst so erregt, daß er seine Pfeife fester zwischen die Zähne klemmen mußte.
Denn Mortimer trat ein, im Pelz und mit der angeregten Miene eines Mannes, der in Gesellschaft gut zu Abend gegessen hat. Ein leichter Duft nach Likör und Zigarren umschwebte ihn.
Kaum hatte er das Zimmer betreten, änderte sich sein Ausdruck. Er wurde kreidebleich. Maigret bemerkte eine Asymmetrie, die schwer zu lokalisieren war, die jedoch seiner Physiognomie etwas Verwirrendes verlieh.
Man spürte, daß er von draußen kam. In seiner Kleidung haftete noch ein Hauch frischer Luft.
Das Schauspiel fand auf zwei Seiten zugleich statt. Der Kommissar konnte nicht alles sehen.
Er beobachtete vor allem den Letten, der nach der ersten Überraschung seine Klarsicht wiederzufinden suchte. Aber dazu war es zu spät. Die Dosis war zu stark. Er fühlte es selbst und nahm verzweifelt seinen ganzen Willen zusammen.
Sein Gesicht war verzerrt. Er mußte die Menschen und Gegenstände durch einen entstellenden Nebel sehen. Als er den Tisch losließ, machte er einen falschen Schritt, fand aber wie durch ein Wunder sein Gleichgewicht wieder, nachdem er fast umgekippt wäre.
»Mein lieber Mor…«, begann er.
Er stieß auf den Blick des Kommissars und sprach mit veränderter Stimme:
»Schade, wie! … Scha…«
Die Tür schlug zu. Eilige Schritte entfernten sich. Mortimer hatte den Rückzug angetreten. Im selben Augenblick fiel der Lette in einen Sessel.
Maigret sprang mit einem Satz zur Tür. Er lauschte kurz, bevor er hinausstürzte.
Doch unter den vielen Geräuschen im Hotel war es unmöglich, die Schritte des Amerikaners herauszuhören.
»Ich sage Ihnen, Sie haben es ja gewollt! …« lallte Pietr, der mit schwerer Zunge seine Rede in einer fremden Sprache fortsetzte.
Der Kommissar schloß die Tür hinter sich zu, ging den Flur entlang und rannte eine Treppe hinunter.
Er erreichte den Absatz der ersten Etage gerade noch rechtzeitig, um eine davonlaufende Frau zu schnappen. Er nahm Pulvergeruch wahr.
Mit der linken Hand hielt er die Frau an den Kleidern fest. Mit der Rechten schlug er auf ihr Handgelenk, ein Schuß ging los, ein Revolver fiel zu Boden, und die Kugel zerschmetterte die Glasscheibe eines Aufzugs.
Die Frau wehrte sich. Sie war außerordentlich kräftig. Der Kommissar fand kein anderes Mittel, sie kampfunfähig zu machen, als ihr das Handgelenk umzudrehen. Sie fiel auf die Knie und zischte:
»Laß los! …«
Unruhe kam auf im Hotel. Man hörte einen ungewohnten Lärm, der durch alle Flure und alle Ausgänge hallte.
Als erstes erschien ein schwarzweiß gekleidetes Zimmermädchen, riß die Arme hoch und wollte entsetzt fliehen.
»Rühren Sie sich nicht!« befahl Maigret, jedoch nicht dem Mädchen, sondern seiner Gefangenen.
Alle beide bewegten sich nicht. Das Zimmermädchen wimmerte: »Gnade! … Ich habe nichts getan …«
Von da an wurde es immer chaotischer. Von allen Seiten strömten die Leute gleichzeitig herbei. Inmitten einer Gruppe gestikulierte der Geschäftsführer. Anderswo sah man Frauen in Abendkleidern, und ein Heidenlärm breitete sich aus.
Maigret beugte sich hinab, um seiner Gefangenen, die niemand anders als Anna Gorskin war, Handschellen anzulegen. Sie verteidigte sich. Bei dem Kampf zerriß ihr Kleid, so daß sie wie gewöhnlich etwas entblößt war, dabei jedoch mit ihren funkelnden Augen und ihrem trotzigen Mund großartig aussah.
»Das Zimmer von Mortimer …«, warf der Kommissar dem Geschäftsführer zu.
Der aber wußte nicht, wo ihm der Kopf stand. Und Maigret war auf sich allein gestellt mitten unter den Leuten, die von Panik erfaßt aneinandergerieten, während die Damen hysterisch schrien, weinten oder zitterten.
Das Zimmer des Amerikaners lag nur wenige Schritte entfernt. Maigret brauchte die Tür nicht erst zu öffnen, sie stand weit auf. Er sah einen blutenden, jedoch noch lebenden Körper am Boden.
Daraufhin rannte er in die obere Etage, klopfte an der Tür, die er selbst verschlossen hatte, hörte nichts und sprengte sie auf.
Das Appartement von Pietr, dem Letten, war leer!
Die Tasche stand noch immer vor dem Kamin auf der Erde, der Konfektionsanzug lag quer darüber.
Durch das offene Fenster drang eisige Luft herein. Es führte auf einen Hof, der so breit wie ein Luftschacht war. Unten erkannte man die dunklen Rechtecke von drei Türen.
Maigret stieg schwerfällig wieder hinunter, sah, daß die Leute sich etwas beruhigt hatten. Unter den Gästen hatte sich ein Arzt befunden. Doch die Damen regten sich nicht weiter wegen Mortimer auf, über den sich der Doktor neigte – die Männer übrigens auch nicht!
Alle Blicke waren auf die im Flur hingesunkene gefesselte Jüdin gerichtet, die mit scharfer Zunge Beleidigungen und Drohungen an die Zuschauer austeilte.
Ihr Hut war vom Kopf gerutscht. Glänzende Haarsträhnen hingen in ihr Gesicht hinab.
Ein Dolmetscher des Hotels trat mit einem Schutzmann aus dem Aufzug mit der zerbrochenen Scheibe.
»Lassen Sie den Flur räumen!« befahl Maigret.
Unklare Proteste wurden hinter ihm laut. Man hatte den Eindruck, als fülle er allein den ganzen Gang aus.
Gewichtig und ungerührt trat er zu dem Körper Mortimers.
»Nun?«
Der Arzt war ein Deutscher, der kaum französisch konnte und eine lange Erklärung in einem Gemisch beider Sprachen abgab.
Die untere Gesichtshälfte des Milliardärs war buchstäblich weggerissen. Es war nur noch eine breite schwärzlichrote Wunde.
Trotzdem öffnete sich der Mund, ein Mund, der schon kein Mund mehr war, und gab ein Stammeln, vermischt mit Blut, von sich.
Niemand verstand es, weder Maigret noch der Arzt, ein Professor an der Bonner Universität, wie man später erfuhr, und auch nicht die zwei oder drei nahe dabeistehenden Personen.
Der Pelz war mit Zigarrenasche bestreut. Eine Hand war weit geöffnet, die Finger gespreizt.
»Tot? …« fragte der Kommissar.
Der Doktor schüttelte den Kopf, beide schwiegen.
Der Lärm im Flur ebbte ab. Schritt für Schritt gelang es dem Polizisten, die aufdringlichen Schaulustigen zurückzudrängen.
Die Reste von Mortimers Lippen zogen sich etwas zusammen und fielen wieder auseinander. Der Arzt blieb noch ein paar Sekunden reglos neben ihm knien.
Dann erhob er sich und sprach, wie von einer schweren Last befreit:
»Tot, oui … Es war schwer …«
Jemand war auf den Rand des Pelzes getreten, so daß man den deutlichen Abdruck einer Schuhsohle erkennen konnte.
Im Türrahmen erschien der Polizist mit seinen silbernen Tressen, verharrte einen Moment schweigend und fragte dann:
»Was soll ich …?«
»Schicken Sie alle Leute weg, ohne Ausnahme …«, befahl Maigret.
»Die Frau heult …«
»Lassen Sie sie heulen …«
Und er stellte sich vor den Kamin, in dem kein Feuer brannte.